Die Rückkehr der respektabel rockenden Kunst-Menschen
Tokio Hotel veröffentlich mit "Humanoid" sein drittes Album
Tokio Hotel als seelenlos kommerzielle Teenie-Band abzutun ist ebenso beliebt wie billig: Nimmt man die ganze Boulevard-Hysterie um das Magdeburger Quartett einmal beiseite, stehen auf der Habenseite nicht nur hochenergetische Rock-Shows mit hohem Unterhaltungswert, sondern auch zahlreiche moderne Ohrwürmer, deren Verfallsdatum längst nicht so gering ist wie viele oft boshafte Kritiker gern unterstellen. Ab morgen nun will die Band erneut ihre Qualität unter Beweis stellen - mit der dritten CD "Humanoid". Tim Hofmann unterhielt sich mit Gitarrist Tom und Sänger Bill Kaulitz.
Freie Presse: Im Vorfeld des neuen Albums ist bisher wenig über die Musik, aber viel über euer Aussehen geredet worden. Euer Schlagzeuger hat eine neue Frisur - ist das so wichtig?
Bill Kaulitz: Das war bei uns ja schon immer so, und Aussehen war in der Branche auch schon immer ein Thema. Pilzköpfe bei den Beatles, Makeup bei David Bowie, Spandexhosen bei Kiss - und heute eben Georgs Scheitel. Die Geschichte wiederholt sich.
Freie Presse: Die erste Single "Automatisch" klingt vergleichsweise zurückgenommen und effektbeladen. Habt ihr das Rocken etwas über?
Bill: Auf Humanoid sind auch wieder Songs, die sich sehr auf Gitarren konzentrieren. Insgesamt haben wir aber viele neue Sounds ausprobieret und auch mit Synthesizern und Keyboards produziert. Wir sind jetzt keine Elektro-DJs geworden, aber das Album hat insgesamt schon einen sehr frischen Sound.
Freie Presse: Bisher habt ihr kaum Stimmverfremdungseffekte verwendet und euch auf Bills natürliche Stimme verlassen. Nun kommt der mittlerweile im modernen Pop doch arg überstrapazierte Autotune-Effekt à la Cher zum Einsatz. Warum?
Tom: Wir mischen jetzt unsere Platte auch in Stereo, also mit Beatles-Effekt. Nee, eigentlich wollten wir das nicht erwähnen, aber den Chor haben Lil Wayne, Kanye West, Cher und Akon für uns eingehustet, die stehen eben drauf.
Freie Presse: Der neue Albumtitel "Humanoid" klingt wie eine ironische Anspielung darauf, dass ihr immer noch Menschen seid, obwohl ihr oft nur als Kunstfiguren wahrgenommen oder von Fans stark idealisiert werdet. Ist der Titel so gemeint?
Bill: Den Begriff "Humanoid" hatten wir nicht von Anfang an. Unsere Songs haben sich einfach in diese Richtung entwickelt, und dann war der Name plötzlich da - alles passte dann perfekt zusammen. Inspiriert sind wir insgesamt immer noch von allem, was wirklich in unserem Leben passiert. Viele Tracks von "Humanoid" erzählen Geschichten und Gefühle seit dem letzten Album. Aber es stimmt schon, "Humanoid", das ist auch ein kleines Stück von dem, wie Menschen uns manchmal wahrnehmen.
Freie Presse: Welches Lob eines Musiker-Kollegen hat euch bisher am meisten bedeutet?
Tom: Früher war uns immer die Meinung unseres Stiefvaters am Wichtigsten, der ja selbst auch Gitarre spielt. Heute sind Komplimente oft sehr nett - aber nichts, worauf man sich etwas einbilden sollte.
Freie Presse: Welches Gitarrenriff der Rockgeschichte hättet ihr am liebsten selbst geschrieben?
Tom: Also, während einer Pause zum Dreh von "Automatic" habe ich mit Georg "Hells Bells" von AC/DC gespielt - das ist auf jeden Fall tierisch!
Freie Presse: Wie viel kompositorischer Input der Bandmitglieder steckt in den neuen Stücken, und woher kommt die Inspiration?
Tom: Bill rennt ständig mit tausenden zerknüllten Zetteln in den Taschen rum und notiert sich bei jeder Gelegenheit Ideen und Zeilen für neue Songs. Manchmal ist dann erst der Text da, manchmal die Melodie. Wir schreiben Songs oft im Team, ein Rezept gibt's da aber nicht.
Bill: Beim Thema Sound kommt natürlich viel von Tom. Ist jetzt auch bei den Keyboard-Sounds so. Tom spielt eigentlich am besten.
Tom: Bei "Humanoid" haben wir uns auch länger mit Synthesizern und Keyboards beschäftigt. Gustav zum Beispiel hat jetzt neben seinem Rock-Set auch elektronische Drums. Was tierisch ist - die kann ich dann bei den Proben einfach leiser drehen!
Freie Presse: Ihr seid mittlerweile auch international sehr erfolgreich. In welchem Land werdet ihr am meisten auf Image, Aussehen und Yellow-Press-Klatsch reduziert, und in welchem steht die Musik am meisten im Vordergrund?
Bill: Das ist weniger vom Land abhängig als von Interviewpartner. Wir haben immer beides. Manchmal geht es um Songs, Texte und Konzerte, und manchmal ums Aussehen und so was. Ist aber beides für uns okay. Wenn ich so rumrenne, erwarte ich ja nicht, dass mich niemand darauf anspricht!
Freie Presse: Ihr beide habt nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihr die Schule lieber von außen als von innen seht und die Bühne bevorzugt. Wie fühlt man sich, wenn man dann für seinen Realschul-Abschluss mit einer Sonder-Auszeichnung wie dem "Jugendpreis Fernlernen 2009" gelobt wird?
Tom: Ja, Schule war und ist für uns der absolute Horror. Wir hatten nur Stress. Die Lehrer haben uns gehasst und das auch nicht verborgen. Das beruhte aber auf Gegenseitigkeit! Den Abschluss haben wir nur gemacht, weil uns die Behörden gezwungen haben. Wir haben uns aber gedacht: 'Okay, wenn wir das jetzt schon machen müssen, dann wenigstens gut.' Da sind wir einfach Perfektionisten.
Erschienen am 01.10.2009
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