Tokio Hotel
Nevermind
23.10.2009, 17:24, Text: Kerstin Grether, Autor unbekannt,
Sandra Grether
Zwillinge sind eine Herausforderung. Weil so gleichstark, proto-verwegen und Verwechslungsgefahr droht. Seit Jahren begeistern und polarisieren auf der Doppelidentität nunmehr Tokio Hotel. Kerstin und Sandra Grether, die Intro-eigene Zwillingsmacht, trafen die beiden in Hamburg und erklären das Phänomen, die Musik und den ganzen Rest.
"Viele Leute haben ja ein Bild von uns und reagieren dann ganz automatisch. Vor allem in Begegnungen, die den ganzen Tag automatisch ablaufen." (Bill Kaulitz)
Was aber wohl Außerirdische sagten, wenn sie von einem neugierigen Planeten auf die Erde geschickt würden, um das Phänomen Tokio Hotel zu beschreiben? Gut möglich, dass sie in den ersten beiden Alben jener "beliebtesten und unbeliebtesten Band Deutschlands" (FAZ) viel Schönes entdecken könnten. Denn seit Nenas epochalem Frühwerk ist es keiner anderen deutschsprachigen Band mehr gelungen, so alltags-rebellischen Fantasy-Rock für eine junge, vornehmlich weibliche Zielgruppe zu produzieren. Noch dazu in einem originellen Stilmix, der durchaus auch ästhetisch mehr Ansprüche an sich selbst stellt als bloßes Funktionieren.
What It Feels Like For A Girl, Boy
Vor allem aber wären jene Außerirdischen wohl äußerst verblüfft darüber, dass ein Lederjacke zu Lidstrich und Langhaar-Dreadlocks tragender Pop-Sänger plötzlich wieder Himmel und Hölle in Bewegung setzt und polarisieren kann - nur weil es ihm Spaß macht, auch seine weiblichen Attribute zu betonen.
Fotostrecke:Tokio Hotel im Intro-Interview
Da gefriert unseren Außerirdischen bei ganzem Leib und mechanischer Seele mal kurz das Blut in den Adern. Sie stellen sich vor: zwei schillernde, coole Fabelwesen auf einem ostdeutschen Kleinstadtschulhof, circa 2005, im tolerant-mobbenden Aggropocherwunderland, in diesen sumpfigen Nullerjahren der großen Koalitionen, mit all den Erwachsenen drum herum, die Authentizität und Vernunft rufen, um den ganzen eigenen Wahnsinn nicht zu fühlen ...
Und was kann man einem 15-jährigen Mädchen, das mit Internet-Pornografie und Frauen-verhöhnenden Rap-Nummern in den Charts aufgewachsen ist - in einer Zeit also, in der "Hure" zu einem anderen Wort für Frau werden konnte -, dann anderes wünschen als diesen romantischen, gitarrenriffigen, sexy Schrei nach Selbstbestimmung, in den Tokio Hotel ihre Erfahrungen mit alltäglichen Widersprüchen auf Provinzschulhöfen bereits mit eingeschrieben haben? Ja, Individualismus ist ein hohes Gut im Universum Tokio Hotel. Ist das, womit das verschieden gestylte Zwillings-Gespann das Format "Teenager-Band" gesprengt und neu erfunden hat. Ist das, was die zumeist weiblichen Fans wirklich interessiert: Wie macht man das - einen eigenen Weg gehen?
Denn man hätte es sich angesichts der enormen Polarisierungskräfte der vier Emoboys ja schon denken können: Die Fans von Tokio Hotel sind keinesfalls nur kreischende Honks. Sie können ihr Fantum und die Band oft kritisch und humorvoll reflektieren, wie man schnell bemerkt, wenn man sich durch die Fan-Foren klickt. Was all die höhnischen und erschreckend homophoben Stimmen in der Öffentlichkeit - wie immer in Fällen von Teen Scream - nicht davon abhält, den Mädchen ständig zu unterstellen, sie wären auf einen gigantischen Schwindel hereingefallen. Die Rebellion gegen solch öde Besserwisserei, gegen diesen ganzen stumpfsinnigen, sexualneidischen, männlichen Anti-Pop-Reflex ist aber längst Teil des Fan-Codes! Und schärft, wie bei jeder intensiv gelebten Subkultur, die sich gegen massive Widerstände behaupten muss, alle fünf Sinne für ein eigenständiges und kreatives Dasein (und den sechsten fürs Vorausahnen von Gefahren noch dazu).
Aber so, wie der Rock'n'Roll tausend Tode stirbt, so macht die Zukunft tausend Anfänge: Es ist sicher kein Zufall, dass Tokio Hotel jetzt in ihrer glücklich-abgründigen Science-Fiction-Hymne "The Dark Side Of The Sun" (deutsche Version: "Sonnensystem") Frank Sinatras "My Way"-Evergreen zitieren, während sie ihre eigenen glorreichen Wege nachzeichnen: "Hello! The end is near, hello, we're still standing here - the future's just begun, on the dark side of the sun."
Humanoid
"Humanoid", also maximal menschenähnlich, nennt sich das dritte Album, auf dem die Band es wagt, den bekannten TH-Sound auf erwachsene und verspielte Weise zu verändern. Es enthält jede Menge perfekter Pop-Songs im Goth-Rock-Gewand: hübsch und kränk, komplex und zum Mitsingen, bedeutungsleer und voller Bedeutungen, und all das zur selben Zeit. Was sicherlich auch ein Einfluss von renommierten internationalen Songwritern wie Guy Chambers (of Robbie-Williams-Fame), Desmond Child oder The Matrix ist, mit denen TH und ihr Songwriter-Team für ein paar Songs kollaboriert haben. Der gitarrengetriebene Hit "Automatisch" klagt mit Electro-Beats und hochfliegendem Gesang mimetisch das Maschine-Werden eines Gegenübers an und feiert zugleich wie in Trance sein All-out-of-love-Sein. Und das bereits erwähnte Glam-Rock-Manifest "The Dark Side Of The Sun", das sich auf Terry Pratchetts gleichnamigen Roman bezieht, toppt selbst Klassiker des Glam Rock, weil das größenwahnsinnige panische Szenario, das darin entworfen wird - dieser niedliche und krasse Tokio-Riot -, ja bereits in vollem Gange ist: "On the TV, in your place, on the radio oh. It's a riot, it's a riot, they say no, oh." Das "radio-hysteria" verkündende Lied verfügt über die Fähigkeiten des sogenannten perfekten Pop-Songs, das Außergewöhnliche aus dem Gewöhnlichen zu destillieren. Und gibt eine würdige Antwort auf dieses Style-konservative Rock-Jahrzehnt, das seine Superstars ständig sucht und verflucht - und dann nicht anders kann, als sie für ihre Individualität entweder zu lieben oder lieber doch zu hassen.
Es sind die Song gewordene Kombination aus Spontaneität und Strategie und der hohe Grad an selfmade Stilisierung, die Bill und Tom Kaulitz zu weltweiten Superstars in der boulevardisierten Pop-Manege machen. Das Ideal dieser Dekade besteht ja darin, extreme Emotionen kunstvoll kanalisieren zu können, eine Stimme zu haben, die zählt. Bill Kaulitz' Stimme und seine berüchtigten anrührenden Blicke haben dabei nichts von der eitlen Kälte, mit der David Bowie oder HIM-Sänger Ville Vallo einst ihre Kriegsbemalung trugen. Er bestürzt und beflügelt durch Herzlichkeit und Humor. Und macht Fans in aller Welt süchtig nach seiner und Toms medialer Präsenz auf Abertausenden Dokumenten im Netz. Zumal Zwillinge seit jeher als starke Projektionsfläche für die Wünsche der Gesellschaft benutzt werden. Die Umwelt sieht in ihnen etwas Besonderes, behandelt sie dadurch als Außenseiter und bekämpft gleichzeitig die Symptome dieses besonderen Status'.
Twin Towers
Mensch, wir sind ganz schön aufgeregt vor dem Interview, wir treffen ja nicht jeden Tag eineiige extravagante Zwillinge, die wie wir aus einem Dorf vom Ende der Welt kommen, kaffeesüchtig und sonnenscheu sind und die darauf stehen, einen Aufstand zu initiieren.
Dann bauen sich Tom und Bill plötzlich vor uns auf, wirklich wie sehr große (1,90!) dunkle Engel, in viel Schwarz gekleidet, mit auffälligen Weiß-Kontrasten. Wie mimetisch mit ihren zwischen Licht und Dunkel changierenden Liedern. Die Boys wirken sehr nett, sind zu Scherzen aufgelegt und auch etwas nervös an diesem frühen Interviewtag. Sie strahlen extrem viel Energie aus, sodass sich schnell ein lebhaftes Gespräch entwickelt. Drummer Gustav und Bassist Georg sind nicht dabei, Pech gehabt, ist ja auch ein Zwillingstreffen.
Was bedeutet "Humanoid" für euch?
B: Der Song hat wahnsinnig viele verschiedene Melodien und Einflüsse. Und genau das bedeutet "humanoid" für uns: ein Gefühl von Hin- und- Hergerissen-Sein und Nicht-wissen-wo-man-hingehört. Wir haben uns von den typischen Songstrukturen freigemacht und das Lied wie eine Geschichte aufgebaut: mit Höhen und Tiefen.
Wie kam es überhaupt zum neuen Sound?
T: Wir wollten einfach mal ein paar andere Sachen ausprobieren. Dafür hatten wir die besten technischen Möglichkeiten. Unser Ziel war es, fette Songs zu haben und soundweltmäßig etwas Neues reinzukriegen.
B: Es war echt so viel Detailarbeit. Wir haben die letzten Tage fast nicht geschlafen und bis zum Schluss daran herumgeschraubt. Tom und ich haben bei dem Album ja auch ko-produziert!
Wie hat man sich bei euch den Prozess des Songwritings vorzustellen?
T: Früher sind 90 Prozent unserer Songs auf der Akustikgitarre entstanden, und man hat dann zusammenhängend im Studio geschaut, wie man sie umsetzt. Diesmal war es so, dass wir im Studio direkt komponiert und recordet haben.
B: Unsere Produzenten haben uns beispielsweise etwas vorgespielt und gesagt: so und so in die Richtung. Dann hat Tom dazu eine Gitarre gespielt, oder ich habe etwas dazu gesungen. Es war ganz unterschiedlich, wie die Songs entstanden sind.
Der Song "Automatisch" klingt so, als wolltet ihr die Projektionen zurückgeben, die manche Leute auf euch als Star-Typen oder als Band haben: dass ihr "gemacht" seid, wie 'ne Maschine funktioniert usw.
B: Super, dass das jemand erkennt! Genau so ist das Lied gemeint. Viele Leute haben ja ein Bild von uns und reagieren dann ganz automatisch. Vor allem in Begegnungen, die den ganzen Tag automatisch ablaufen. Man kriegt ja ganz wenig Echtheit aus Leuten raus, wenn man sie trifft.
Tokio Hotel müssen ja den Anforderungen eines erfolgreichen internationalen Acts gerecht werden. Eurer Auffassung einer Pop-Inszenierung kommt das offensichtlich entgegen ...
B: Klamotten, Songtexte, Musik: Das gehört für mich alles zusammen. Es geht ja insgesamt um ein Gefühl, das man transportieren will. Ich mach auch total gern selbst Fotos und hab Bock auf den ganzen Modekram. Man kann sich auf diese Weise immer so viele kleine Träume erfüllen.
[zu Bill] Wir hatten die Theorie, dass du in seine Frisur-Richtung gegangen bist, weil er nicht in deine gehen wollte.
T: [lacht] Sagen wir mal so: Ich war mein ganzes Leben so 'ne Art Vorbild für Bill.
B: Als ich mich für die Dreadlocks entschieden hab, hab ich überhaupt nicht an seine gedacht - weil ich seine furchtbar fand! Das waren ja so Naturdinger. Und ich wollte ganz andere haben.
Gab es in eurem Leben als Zwillinge mal eine Phase, in der ihr nicht aufgefallen seid?
B: Wenn man alleine unterwegs war, dann war das nicht so ein großes Thema. Aber wenn man zusammen auftaucht, dann unterhalten sich natürlich alle über einen. Auch, weil wir beide so verschieden aussehen.
T: Das war schon früher so.
B: Es gibt ja nichts Schöneres, als eineiige Zwillinge zu sein. Ich kann mir das gar nicht anders vorstellen. Tom und ich, wir sind so eins, wir sind so seelenverwandt. Ich kann nicht einen Tag ohne ihn auskommen!
Neben all der Begeisterung, die das auslöst, gibt es sicher auch viele Leute, die Angst vor dieser starken Einheit haben.
T: Das ist uns oft begegnet, auf jeden Fall! In der siebten Klasse wurden wir aus genau dem Grund strafversetzt. Die Lehrer haben gesagt, unsere Meinung sei ihnen zu stark.
B: [lacht] Wenn Tom und ich eine Meinung haben, dann kommt man daran nicht vorbei. Das ist schon hart. Auch für die Leute im Team.
Euer zwillingsbedingtes Zusammenhalten entspricht offenbar nicht den Normen einer Konkurrenzgesellschaft.
B: Ja, das ist schon was Besonderes.
T: Alle Leute haben immer gedacht: Wie krass sind die Typen unterwegs, dass die, wenn die so unterschiedlich gekleidet sind, überhaupt miteinander sprechen.
B: So nach dem Motto: Wieso rennt einer, der offensichtlich HipHop hört, mit so 'nem Typen rum, der angemalte Augen hat?
Damit lebt ihr ja die Vision einer wirklich toleranten Gesellschaft. Weil, es wär ja toll, wenn sich so HipHop-Typen und so feminine Typen verstehen würden.
B: Verstehen würden, ja, genau!
T: Ich glaube, Leute könnten sich unglaublich gut ergänzen, wenn sie sich mehr zusammentun würden. Dadurch, dass jeder Gott sei Dank auch unterschiedliche Meinungen hat, ergänzt man sich unheimlich gut.
Schon schockierend, dass euch die Lehrer gedisst haben. Die hätten euch doch vor dem Mob beschützen müssen!
B: Ja, genau, stattdessen hat der Lehrer, als wir strafversetzt wurden, den Schülern sogar gesagt, sie sollen Tom in seiner neuen Klasse ausgrenzen.
T: Das kam neulich erst raus! Mein bester Freund ging in die Klasse, und der hat mir das erzählt.
B: Wir haben das aber nicht zugelassen.
T: Wir haben immer polarisiert. Das war eine gute Vorbereitung für heute.
Für diesen Mut lieben euch ja auch die Fans. Und es ist toll, dass ihr die Mädchen dazu inspiriert, selbst richtig kreativ zu sein.
B: Überall, wo wir sind, drücken sie uns ihre Songtexte und Demos und Zeichnungen in die Hand. Das ist echt cool.
Die Außerirdischen funken zu ihrem Planeten: Einst haben Tokio Hotel die Schulhöfe durcheinandergebracht; "Humanoid" aber könnte auch die erwachsenen Zweifler überzeugen, die bislang nur die blanken Posterboys in ihnen gesehen haben. Tokio Hotel sind zu gut fürs bloß Guilty-pleasure-Sein. Eine der letzten Wahrheiten, die diesem Jahrzehnt noch abzuringen ist.
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